Demokratiebildung an Schulen mit Ganztagsangeboten in Sachsen
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von Ricarda Andreh
Dieser Beitrag gibt einen Überblick über den Stellenwert von Demokratiebildung an Schulen mit Ganztagsangeboten und konkrete Möglichkeiten der Einbindung in den Schulalltag – insbesondere über die Zusammenarbeit mit außerschulischen Partner*innen.
DEMOKRATIEBILDUNG – WAS IST DAS UND WELCHEM ZWECK DIENT SIE?
Dass wir in einer Demokratie leben, ist nicht selbstverständlich. Umso wichtiger ist es, zukünftigen Generationen zu vermitteln, was Demokratie bedeutet, welche Werte damit verbunden sind und welchen Mehrwert ein demokratisches System für sie persönlich hat. Nur, wenn den Schüler*innen bewusst ist, welchen Einfluss sie auf dieses System haben, werden sie sich in Zukunft dafür engagieren. Welche Auswirkungen es haben kann, nicht wählen zu gehen, zeigt das Brexit-Referendum 2016. Obwohl laut Umfragen (siehe Abb. 1) der Großteil der jungen Brit*innen (72%) für einen Verbleib in der EU votieren wollte und nur zwei Prozent angegeben hatten, nicht wählen zu gehen (vgl. statista 2016, S. 20), lag die Wahlbeteiligung der 18-24-jährigen letztendlich nur bei 64% (im Vergleich zu 89% bei über 65-jährigen) (vgl. BSA 2016, S. 6). Im Anschluss wurden Proteste laut, in denen diese jungen Menschen ein zweites Referendum forderten, da sie sich nicht repräsentiert fühlten.

Abb. 1: Abstimmungsabsicht beim EU-Referendum 2016 im Vereinigten Königreich nach Alter, Quelle: statista, 2016, S .20.
Damit etwas Vergleichbares nicht nochmal passiert, muss den Schüler*innen fortwährend aufgezeigt werden, welchen Stellenwert Wahlen haben und wie politische Partizipation funktioniert. Ihnen sollten Möglichkeiten und Plattformen aufgezeigt werden, wie sie sich informieren und einbringen können. Den Schüler*innen sollte zudem bewusst sein, dass die Demokratie die einzige Staatsform ist, „die dem Einzelnen mit ihren Mechanismen und Normen individuelle Selbstbestimmung, politische Teilhabe, Schutz vor staatlicher Willkür und Rechtsverletzungen durch Dritte garantiert.“ (MfKJS 2019, S. 5)
Die Schule hat in der Demokratiebildung eine besondere Rolle. Sie ist ein prägender Ort, an dem Kinder und Jugendliche den Großteil ihrer Zeit verbringen, besonders in Schulen mit Ganztagsangeboten. Hier steht die ganzheitliche Bildung und somit die Verknüpfung von Unterrichtsinhalten mit der Lebenswelt im Fokus. Nicht nur deshalb kann und muss Schule Demokratiebildung leisten. Es ist zudem die staatlich festgelegte Aufgabe von Beamt*innen, sich „zu der freiheitlich demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes zu bekennen und für deren Einhaltung ein[zu]treten“ (vgl. BfJ o.J.). Wichtig ist hier, dass Lehrer*innen als staatliche Beamte die Schüler*innen in ihrer Meinungsbildung unterstützen, aber dabei selbst unparteiisch bleiben. Sie sollen die grundlegenden demokratischen Werte vermitteln.
WELCHE FORMEN VON DEMOKRATIEBILDUNG SIND AN EINER SCHULE MÖGLICH?
Schüler*innenparlament und Klassenrat
Die an den meisten Schulen gängige Praxis von Demokratiebildung ist das Schüler*innenparlament und der Klassenrat. Innerhalb der Klasse können in demokratischen Wahlen die Klassensprecher*innen gewählt werden. Mit Hilfe eines Schüler*innenparlaments werden die Schüler*innen in schulrelevante Entscheidungen einbezogen. Die Kinder und Jugendlichen lernen dadurch die Strukturen einer Demokratie kennen und erfahren, welchen Einfluss sie in Bezug auf die Entscheidungsfindung haben. Dabei kann jede*r Schüler*in den Grad der Beteiligung selbst wählen. In diesen Formaten muss aber nicht nur über unmittelbar schulrelevante Themen diskutiert werden. Vielmehr können hier gesamtpolitische Themen, wie z.B. der Brexit, das Konjunkturpaket in Corona-Zeiten, die Einhaltung des Pariser Abkommens bzw. die Klimakatastrophe oder der russische Angriffskrieg auf die Ukraine besprochen werden. Auch dadurch können demokratische Lernprozesse angeregt werden (vgl. Dittgen 2019, S. 28).
Demokratiebildung im Ganztagsbereich
Denkbar ist auch ein wöchentliches Angebot im Ganztagsbereich. Hierfür können Lehrkräfte und Mitarbeiter*innen Fortbildungen des Freistaats Sachsen besuchen. Das Angebot selbst kann unterschiedlich gestaltet sein. Es können Projekte zur Verbesserung der demokratischen Schulkultur initiiert werden. Auch über die Institution Schule hinaus ist die Planung und Durchführung von Projekten und Aktionen möglich. Der Diskurs mit den Schüler*innen wird dabei ebenfalls angeregt.
Workshops, Planspiele, Projekttage und Projektwochen
Auch Workshops, Planspiele, Projekttage und Projektwochen tragen zur Vermittlung demokratischer Werte bei. Diese Formate können in allen Altersstufen eingesetzt werden. Die Vermittlung demokratischer Werte trägt dazu bei, das Verständnis der Schüler*innen für die Bedeutung von Demokratie zu stärken. Darüber hinaus erkennen sie, dass gelebte Demokratie über die Teilnahme an Wahlen hinausgeht. Die meisten Schüler*innen dürfen noch nicht wählen und somit besteht die Gefahr, dass Demokratie für sie erst wichtig wird, wenn sie es dürfen. Bei der Vermittlung demokratischer Werte geht es aber vielmehr darum, Demokratie greifbar zu machen, demokratische Prozesse vereinfacht darzustellen und über unterschiedliche Themen in den Diskurs zu gehen. Außerschulische Partner*innen sind hier ein wichtiger Bestandteil. Prof. Dr. Thomas Coelen von der Universität Siegen begründet dies so:
„Um ihrem Bildungsauftrag unter kapitalistisch-demokratischen Rahmenbedingungen gerecht werden zu können, ist die Schule auf Kooperation mit anderen lebensweltlichen, weniger verrechtlichten und vermachteten Institutionen angewiesen, da sie die symbolische Reproduktion (in) der Lebenswelt aus strukturellen Gründen (Schulpflicht, Beurteilungswesen, Zertifizierung von Zugangschancen) nur begrenzt gewährleisten kann.“ (Coelen 2006, S. 276)
Obwohl Coelen diese Kooperation auf die Jugendarbeit bezieht, kann der Grundsatz auch auf inkorporierte Partnerschaften (außerschulische Partner kommen in die Institution Schule) übertragen werden. Denn auch innerhalb der Institution Schule kann non-formale Bildung stattfinden, die Coelen wie folgt definiert:
„Hingegen sind hier mit dem gleichermaßen institutions- wie subjektbezogenen Begriff ,nicht-formelle Bildung' solche settings gemeint, die unter Abwesenheit von berechtigenden Zertifikaten freiwillig institutionalisiert oder fakultativ wählbar sind und deren Inhalte und Methoden systematisch einer relativ großen Gestaltbarkeit seitens der Teilnehmenden unterliegen.“ (ebd., S. 270)
Hier wird deutlich, dass non-formelle Formate großes Potenzial haben, die Schüler*innen in ihrer Lebenswelt abzuholen und mit ihnen in einen echten Diskurs zu gehen, vor allem, wenn die Lehrkraft nicht im Raum ist. Noch vorteilhafter ist es, wenn diese Workshops nicht in den Schulgebäuden stattfinden, da die Schüler*innen somit eine größere Distanz zu den genannten Faktoren bekommen und ihnen das Gefühl gegeben wird, alles sagen zu dürfen, ohne beurteilt und bewertet zu werden. Zudem werden mehr Schüler*innen mit diesen Formaten erreicht, nicht nur jene, die freiwillig Angebote außerhalb der Schule besuchen. Workshops: Workshops können themenspezifisch oder -unspezifisch stattfinden. Hier geht es vor allem darum, zu diskutieren. So können die Schüler*innen offen über Rassismus, Sexismus, Antisemitismus oder das Thema EU, Klimagerechtigkeit oder Krieg diskutieren. Dabei erfahren sie, dass die Möglichkeit dieses offenen Diskurses auch Teil unseres demokratischen Systems ist. Sie lernen, sich zu äußern und können im Diskurs mit anderen ihre Meinung vertreten, festigen oder sich von anderen Argumenten überzeugen lassen. In diesem Setting ist sehr wichtig, dass den Schüler*innen klar ist, dass es keine richtige oder falsche Meinung gibt und, dass die Workshopleiter*innen mit ihnen auf Augenhöhe diskutieren. Planspiele: Planspiele bieten sich an, um demokratische Prozesse zu verdeutlichen. Die Schüler*innen erfahren auf spielerische Art und Weise, wie z.B. das Asylverfahren abläuft (Planspiel ene mene muh - und raus bist du, Friedenskreis Halle), zum Grundgesetz und Verschwörungsmythen (Ich bin wählerisch) oder wie Umweltpolitik in der EU vollzogen wird (PEP-Planspiel, BpB). Für Planspiele sollten mindestens 3-4 Stunden eingeplant werden, wobei es auch Spiele gibt, die mehrere Tage dauern. Die Bundeszentrale für politische Bildung stellt auf ihrer Website eine Planspiel-Datenbank zur freien Verfügung. Projekttage und Projektwochen: Diese Formate bieten einen größeren Zeitraum, um intensiv an einem oder verschiedenen Themen zu arbeiten. Zudem ermöglichen sie ein höheres Maß an Freiwilligkeit bzw. Wahlfreiheiten für die Schüler*innen. Dadurch, dass im Regelfall die gesamte Schule an solchen Projekten beteiligt ist, bietet dies die Möglichkeit, die Schulkultur und Umgangsweise nachhaltig zu beeinflussen und auch klassen- und jahrgangsübergreifend zu arbeiten.
WELCHE ANSPRECHPARTNER*INNEN FÜR DEMOKRATIEBILDUNG GIBT ES IN SACHSEN?
Außerschulische Kooperationspartner*innen können das Schulleben in den unterschiedlichsten Dimensionen bereichern. Zum einen können sie die Schule bei der Durchführung eigener Angebote zum Thema Demokratiebildung unterstützen, indem sie Materialien zur Verfügung stellen, für Fragen bereitstehen oder Fortbildungen anbieten. Zum anderen können sie selbst Angebote im Bereich der politischen Bildung anbieten. Diese können sowohl in der Schule stattfinden als auch an außerschulischen Orten. In Sachsen gibt es zahlreiche Organisationen, die hier als Ansprechpartner*in fungieren: Zunächst sollte die Sächsische Landeszentrale für politische Bildung (SLpB) genannt werden. Diese stellt nicht nur Materialien zur Verfügung und bietet Fortbildungen für Lehrkräfte und Multiplikator*innen an, sondern führt auch Projekte zu diesem Thema durch. Hier ist vor allem das Projekt Schule im Dialog für alle Akteur*innen in Schulen interessant, genau so wie die Veranstaltungsreihe Was Schule bewegt, die Lehrkräfte und Schüler*innen zugleich als Zielgruppe hat.
Eine weitere Anlaufstelle ist das Demokratiezentrum Sachsen. Dieses bündelt alle Aktivitäten im Bereich Demokratie in Sachsen und bietet ein ausgebautes Netzwerk, das helfen kann, passende Projekte für die eigene Schule zu finden. Eine Anlaufstelle ist außerdem das Netzwerk Demokratie und Courage (NDC), das einen besonderen Schwerpunkt auf das Thema Antirassismusarbeit legt. Material hierzu findet sich auf der Seite des SKA.
Auch der Verein Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. bietet zahlreiche Möglichkeiten, sich mit dem Thema Demokratie auseinanderzusetzen. Für Schulen besonders interessant sind hier: Das Argutraining. WIeDERSPRECHEN für Demokratie, Demokratie ist wichtig. Punkt! und die Handreichung zur Lokalen Spurensuche Demokratiegeschichte.
Das Informationszentrum europe direct (EDIC) hat insgesamt drei Anlaufstellen in Sachsen, eine in Dresden, eine in Leipzig und eine in Annaberg-Buchholz. Diese bilden das Bindeglied zwischen den EU-Institutionen und den Bürger*innen. Wer auf der Suche nach Kooperationspartner*innen ist, die Peer-to-Peer-education anbieten, kann sich beim JuniorTeam Europa melden. Dieses bietet in ganz Sachsen Workshops zum Thema Europa und Demokratie an. Auch die Jungen Europäischen Föderalisten (JEF) bieten mit ihrem Programm „europe@school“ ähnliche Formate.
Schulen mit Ganztagsangeboten bieten Hand in Hand mit Lehrkräften und Mitarbeiter*innen den nötigen Raum und die nötige Zeit, um all diese Formate umzusetzen.
LITERATURVERZEICHNIS
Bundesamt für Justiz (BfJ) (o.J.): Beamtenstatusgesetz, §33. URL: https://www.gesetze-im-internet.de/beamtstg/__33.html (Zugriff: 13.03.2022).
British Social Attitudes (BSA) (2016): Brexit. Volume 34. URL: https://bsa.natcen.ac.uk/media/39149/bsa34_brexit_final.pdf (Zugriff: 13.03.2022).
Coelen, T. (2006): Ganztagsbildung durch Kooperation von Schulen und Jugendeinrichtigungen. In: Bildung und Erziehung, Band 59, Heft 3. S. 369-284.
Dittgen, M. W. (2019): Aktuelle gesellschaftliche und politische Themen im Klassenrat diskutieren. In: mateneen: Praxishefte Demokratische Schulkultur 2, S. 28-30.
Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg (MfKJS) (Hrsg.) (2019): Demokratiebildung. Schule für Demokratie, Demokratie für Schule.
Statista (2016): Eu membership referendum in the United Kingdom (UK). URL: https://www.statista.com/study/33346/eu-membership-referendum-in-the-united-kingdom-uk-statista-dossier/ (Zugriff: 13.03.2022).