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Ganztag entwickeln

Kenntnisse von sächsischen Lehramtsstudierenden zum Thema Ganztag

Aktualisiert: 7. Dez. 2021


von Laura Lehmann


FORSCHUNGSANLASS

Aus der Schullandschaft der Bundesrepublik Deutschland ist die Ganztagsschule gegenwärtig nicht mehr wegzudenken. Diese Dominanz von Schulen mit Ganztagsangeboten trifft insbesondere auf Sachsen zu. Hier sind die bundesweit höchsten Teilnahmequoten ganztägiger Bildung zu verzeichnen (vgl. Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft 2020, S. 2). Insgesamt herrscht in der erziehungswissenschaftlichen Forschung Konsens darüber, dass der Beruf der Ganztagsschullehrkraft kein grundsätzlich neuer Beruf ist (vgl. Wunder 2008), gleichwohl haben sich die Aufgaben und Rollen von Lehrpersonen an Ganztagsschulen verändert (vgl. Lehmann 2014, S. 27). So sind Unterrichts- und Erziehungsprozesse immer eingebettet in Rahmenbedingungen, welche wiederum Auswirkungen auf die jeweils möglichen konkreten Gestaltungsformen haben (vgl. Berger 2012, S. 26). Ändern sich die schulischen Rahmenbedingungen in Folge des Ganztagsschulausbaus, hat dies unmittelbare Folgen für das Kerngeschäft der Schule, das Lernen (vgl. Steiner 2010), genauer gesagt die pädagogische Planung, Organisation, Gestaltung und Auswertung von Lernprozessen. Insofern muss das Thema Ganztag in den Ausbildungscurricula von Lehrkräften verankert werden (vgl. Wichmann 2014, S. 104).

Da vor dem Hintergrund der hohen Ausbauquoten ganztägiger Angebote in Sachsen alle angehenden Lehrkräfte im Freistaat de facto an einer Schule mit Ganztagsangeboten arbeiten werden, geht die nachfolgend vorgestellte Studie der Frage nach den Kenntnissen sächsischer Lehramtsstudierender zum Thema Ganztag nach.


DER BERUF DER LEHRKRAFT AN EINER GANZTAGSSCHULE

Generell ist das Tätigkeitsfeld einer Lehrperson an jeder Schule bereits ein „komplexe[s] Tätigkeitsbündel“ (Terhart 2007, S. 458). Die Kultusministerkonferenz (KMK) (2000) beschreibt Lehrkräfte als „Fachleute[n] für das Lernen“ (S. 2), deren zentrale Aufgaben Unterrichten, Erziehen, Beurteilen und Beraten, die ständige Weiterentwicklung eigener Kompetenzen sowie die Beteiligung an der Schulentwicklung ist (vgl. ebd., S. 2ff.).

Betrachtet man explizit die Ganztagsschule, so weitet sich das Aufgabenspektrum der Lehrkräfte noch weiter aus (vgl. Abb. 1). Die zentralen Erweiterungen dieses Aufgabenfeldes umfassen die verlängerte zeitliche Präsenz in der Schule, die Entwicklung und Optimierung einer stärker schülerzentrierten Lehr- und Lernkultur, einen größeren Fokus auf die individuelle Förderung aller Lernenden, eine effektive Kooperation und Teamarbeit, die Ausweitung der Tätigkeit auf erzieherische Belange und die konsequente Beteiligung und Weiterentwicklung des Ganztagsschulkonzepts (vgl. Speck 2012, S. 58ff.). Lehrpersonen stellen ein entscheidendes Bindeglied des multiprofessionellen Teams dar und kooperieren daher zum einen mit pädagogischen Fachkräften, wie Erzieher*innen, Schulsozialarbeiter*innen, Sozialpädagog*innen und Psycholog*innen sowie zum anderen mit einem breit gefächerten Netz externer Kooperationspartner*innen, wie beispielsweise Sport- oder Musikvereinen und der Jugendhilfe. Empirische Untersuchungen belegen, dass die leistungsstärksten Schüler*innen an jenen Ganztagsschulen lernen, an welchen eine geglückte Kooperation des multiprofessionellen Teams stattfindet (vgl. Tillmann/Rollett 2011, S. 31). In der konkreten Umsetzung ist dabei bedeutsam, dass sich die verschiedenen Professionen auf Augenhöhe begegnen und ihre Arbeit gegenseitig wertschätzen. Ebenso ist ein wiederkehrender gemeinsamer Austausch unabdingbar. Diesbezüglich belegt die Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen (StEG) 2007, dass hier erneut Ausbaubedarf besteht (vgl. Kielblock/Gaiser 2016, S. 125). Um eine qualitativ hochwertige Arbeit zwischen der Ganztagsschule und externen Kooperationspartner*innen zu gewährleisten, gelten die gemeinsame Arbeit am Konzept sowie die Mitbestimmung und Verbindung von Angebot und Unterricht als zentrale Qualitätsmerkmale (vgl. Coelen/Stecher 2014, S. 32).

Abb. 1: Aufgabenspektrum von Lehrpersonen an Ganztagsschulen, eigene Darstellung, Quellen: Monitor – Lehrerbildung 2017, S. 7ff.; Kultusministerkonferenz 2015, S. 5; Appel/Rutz 2009, S. 174; Popp 2011, S. 46; Speck 2012, S. 58ff.


Zur Bewältigung dieser zahlreichen und vielfältigen Aufgaben bedarf es sowohl Wissen über die Organisation und Struktur einer Ganztagsschule wie auch überfachlicher Kompetenzen (vgl. Lehmann 2014, S. 27f.). Statistische Befunde aus Befragungen von Lehrpersonen im Rahmen der StEG-Studie 2009 verweisen jedoch darauf, dass Lehrkräfte notwendige Kompetenzen zur Bewältigung all dieser zusätzlichen Aufgaben zum Teil noch erwerben müssen. Um den zusätzlichen Rollen des Lehrer*innenberufs an einer Ganztagsschule gerecht zu werden, erhoffen sich zudem mehr als zwei Drittel der befragten Lehrpersonen eine stärkere Elternbeteiligung und bessere Arbeitsbedingungen (vgl. Rollett 2013, S. 76). Diese Ergebnisse implizieren folglich, dass für die Mehrheit der Ganztagsschullehrkräfte entscheidende Unterstützungsmechanismen zur Realisierung ihrer Aufgaben gegenwärtig noch fehlen.


AUSBILDUNG ANGEHENDER GANZTAGSSCHULLEHRKRÄFTE

Der bundesweite Ausbau der Ganztagsschulen sowie die daraus resultierenden zusätzlichen und zum Teil neuen Anforderungen des Schulalltags bedingen die Manifestierung und Gewährleistung eines gewissen Standards der Lehrer*innenprofessionalität. Die Kultusministerkonferenz (KMK) (2015) benennt diesbezüglich in ihrem Bericht zu Ganztagsschulen in Deutschland, dass bundesweit das Thema Ganztag nahezu lückenlos in die erste und zweite Ausbildungsphase von Lehrkräften Einzug gehalten hat (vgl. ebd., S.13). Betrachtet man in der von der KMK erstellten Darstellung (vgl. Abb. 2) allerdings das Bundesland Sachsen, so lässt sich deutlich erkennen, dass lediglich Fortbildungen in der zweiten Phase der Ausbildung eine ausreichende Möglichkeit bieten, sich über den Ganztag zu informieren. Somit ist das Thema Ganztag gegenwärtig längst noch nicht zufriedenstellend in die Ausbildung sächsischer Lehrpersonen implementiert.

Abb. 2: Programme zur Ausbildung von Lehrkräften zum Thema Ganztagsschule, Quelle: Kultusministerkonferenz 2015, S. 14.


So sprechen Appel und Rutz (2009) von „Qualifikationslücken“ (ebd., S. 172) angehender Lehrpersonen in Bezug auf das Thema Ganztag. Auch der Monitor-Lehrerbildung (2017) übt Kritik an den inhaltlichen Defiziten und verweist darauf, dass das Lehramtsstudium bislang nur unzureichend auf die tatsächliche Arbeit der Lehrkräfte an Ganztagsschulen vorbereitet. Am ehesten lassen sich Bildungsinhalte zur Ganztagsschule bei angehenden Sonderpädagogiklehrkräften verorten (vgl. ebd., S. 12f.). Folglich besteht im wissenschaftlichen Diskurs Konsens darüber, dass die Lehrer*innenausbildung in Bezug auf das Thema Ganztag aktualisiert und optimiert werden muss.

Speck (2012) formulierte Konsequenzen sowohl für die erste als auch für die zweite Ausbildungsphase. Teil dieser Forderungen sind ein Austausch über die beruflichen Vorstellungen und Erwartungen, die Vorzüge sowie Grenzen der zukünftigen Tätigkeit. Des Weiteren sollen Inhalte wie die pädagogischen Ziele, die Chancen und Herausforderungen von Ganztagsschulen, die jeweiligen Funktionen und Rollen der Schulleitung und der Lehrkräfte, die gelungene Zusammenarbeit mit Kooperationspartner*innen, die Beteiligung an der Gestaltung der Angebote sowie Möglichkeiten der individuellen Förderung der Schüler*innen als prüfungsrelevante Bestandteile festgelegt werden (vgl. ebd., S. 56ff.). Oelkers (2011) fordert ergänzend, dass in den jeweiligen Ausbildungsgängen ebenfalls Pflichtpraktika eingeführt werden, welche von den Studierenden explizit an Ganztagsschulen absolviert werden müssen. Hierdurch können die angehenden Lehrkräfte bereits während des Studiums eine realitätsnahe Vorstellung von der Tätigkeit an einer Ganztagsschule erwerben (vgl. ebd., S. 46, ebenso Uhl 2017, S. 166).

Um ein aktuelles Bild der ersten Ausbildungsphase von Lehramtsstudierenden bezüglich der Implementierung der Thematik Ganztag zu gewinnen, wurden im Rahmen der hier vorliegenden Studie alle Vorlesungsverzeichnisse bzw. Online-Portale aus dem Wintersemester 2020/2021 der 72 deutschen Universitäten und Pädagogischen Hochschulen, welche einen Lehramtsstudiengang anbieten, untersucht. Die Analyse zeigt, dass an circa Dreiviertel aller lehrer*innenausbildenden Stätten in Deutschland kein inhaltliches Angebot zum Thema Ganztag unterbreitet wird. Zudem muss beachtet werden, dass nicht herausgefunden werden konnte, ob an den 21 Universitäten und Pädagogischen Hochschulen, welche eine Veranstaltung anbieten, diese auch verpflichtend sind. In Sachsen wird lediglich an der Universität Leipzig ein Seminar angeboten, welches jedoch nicht belegungspflichtig ist. Die Technischen Universitäten Chemnitz und Dresden boten nicht nur im Wintersemester 2020/2021 keine entsprechenden Inhalte an. Die weitere Analyse der Vorlesungsverzeichnisse der Jahre 2015 bis 2020 zeigte, dass auch in diesem Zeitraum nicht eine einzige Veranstaltung bereitgestellt wurde.


FORSCHUNGSFRAGE

Die vorstehende Auseinandersetzung mit der Thematik Ganztag in der Lehrer*innenausbildung zeigte, dass die Thematisierung entsprechender Inhalte in der ersten Phase der Ausbildung unabdingbar ist. Aufgrund dessen geht die vorliegende Untersuchung der Frage nach: Welche Kenntnisse besitzen sächsische Lehramtsstudierende zum Thema Ganztag?


DAS FORSCHUNGSDESIGN IM ÜBERBLICK

Das Forschungsdesign wurde als quantitative Datenerhebung in Form einer standardisierten Online-Umfrage mit Hilfe des Tools LimeSurvey konzipiert und richtete sich an Lehramtsstudierende der drei sächsischen Universitäten Dresden, Leipzig und Chemnitz.

Der verwendete Fragebogen beginnt mit einem einleitenden Teil, in welchem das Thema der Umfrage, an wen sie gerichtet ist und welches Ziel mit ihr verfolgt wird, erläutert sowie die personenschutzrechtlichen Aspekte beschrieben werden. Um die substanziellen Kenntnisse der Lehramtsstudierenden einer Universität zuzuordnen und in der Auswertung Empfehlungen aussprechen zu können, erfragt das erste Item den Studienort der Teilnehmer*innen. Im Folgenden werden die inhaltsbezogenen Fragen gestellt. Diese wurden auf Basis der in der Literatur beschriebenen Veränderungen, Besonderheiten und zusätzlichen Anforderungen an Ganztagsschullehrkräfte konzipiert. Kenntnisse können sowohl durch die universitäre Ausbildung als auch durch persönliche Erfahrungen durch Begegnungen mit Ganztagsschulen / Schulen mit Ganztagsangeboten entwickelt werden. Deshalb ermittelt der Fragebogen zunächst die bisherigen Erfahrungen und persönlichen Einschätzungen der befragten Personen zum Thema Ganztag. So wird mittels geschlossener Ja-Nein-Fragen bestimmt, ob die Teilnehmenden in ihrer Ausbildung oder privat bereits mit Ganztagsbildung und Schulen mit Ganztagangebot in Kontakt gekommen sind; ob sie bereits ein Praktikum an einer entsprechenden Schule absolviert haben und ob sie die Thematik für ihre spätere Berufspraxis als relevant erachten. Um tiefergehende Informationen über möglicherweise absolvierte Praktika zu erhalten, können die befragten Personen in einem Freitextfeld die Ausgestaltung des Ganztagbetriebs in der entsprechenden Schule näher erläutern. Des Weiteren werden geschlossene Fragen dazu gestellt, ob sich Teilnehmer*innen perspektivisch vorstellen können, an einer Ganztagsschule / Schule mit Ganztagsangeboten zu arbeiten. Die sich anschließenden Items des Fragebogens fokussieren die Implementierung von Inhalten zum Thema Ganztag in das Studium der Befragten. Aufgrund dessen sollte von ihnen eingeschätzt werden, wie wichtig diese Thematik in ihrer universitären Ausbildung ist sowie welche Beachtung diese gegenwärtig in ihrem Studium findet.

Im dritten Abschnitt der Umfrage erfolgt eine Selbsteinschätzung der Befragten, wie sie ihr Wissen zu zentralen Bereichen der Ganztagsschule / Schulen mit Ganztagsangeboten beurteilen. Hierfür wurden sie gebeten, ihre Kenntnisse auf einer Skala von 1 – kenne ich nicht bis zu 4 – kenne ich sehr gut einzuschätzen. Die einzelnen Items sind die veränderte Lern- und Unterrichtskultur, neue Raum- und Mittagessengestaltung, Rhythmisierung von Tagesabläufen, Anforderungen an den Lehrer*innenberuf und die Lehrer*innenrolle, die mögliche Partizipation von Eltern oder Schüler*innen, Konzepte zur individuellen Förderung, Möglichkeiten der Kooperation mit außerschulischen Partner*innen sowie aktuelle statistische Befunde zur Wirksamkeit. All diese Aspekte werden in der einschlägigen Literatur, wie zuvor gezeigt worden ist, als Besonderheiten und Erweiterungen des Lehrer*innenberufes an einer Ganztagsschule betont.

Die Teilnehmer*innen der Umfrage wurden zum einen über die Verbreitung des Fragebogens im Freundeskreis sowie zum anderen über das direkte Anschreiben und Kontaktieren von Studierenden- und Fachschaftsräten und Dozierenden der Bildungswissenschaften generiert. In dem Untersuchungszeitraum vom 10.01.2021 – 09.02.2021 beteiligten sich insgesamt 321 sächsische Lehramtsstudierende der drei Universitäten. Von diesen 321 Teilnehmer*innen beantworteten 273 den Fragebogen vollständig bis zum Ende. Da die 48 Befragten, welche die Online – Umfrage nicht bis zum Schluss ausfüllten, keine Angaben bezüglich der Einschätzung ihres Wissens zum Thema Ganztag tätigten, wurden sie bei der Auswertung von der Gesamtteilnehmer*innenzahl abgezogen. Nur so ist es möglich, die eingangs formulierte Fragestellung bezüglich der Kenntnisse sächsischer Lehramtsstudierender wirkungsvoll zu beantworten.

Die Verteilung der 273 befragten Lehramtsstudierenden auf die drei sächsischen Universitäten Leipzig, Dresden und Chemnitz ist relativ gleichmäßig gestaltet, sodass jeder Studienstandort jeweils knapp ein Drittel der Gesamtteilnehmer*innenzahl bildet (vgl. Abb. 3).

Abb.: 3: Verteilung des Studienortes der Teilnehmenden (n=273).


Um die Ergebnisse der Online-Umfrage auszuwerten, wurden die qualitativen und quantitativen Fragen zunächst separiert und getrennt betrachtet. Die qualitativen Anteile wurden gesichtet und ähnliche Antworten zusammengefasst, sodass häufige Antworten der Teilnehmer*innen in Tabellen geordnet wurden. Um die quantitativen Fragen zu analysieren, wurden die Daten in das Statistikprogramm SPSS exportiert und dort in Zahlenwerte kodiert. Anschließend wurde mit den Daten in SPSS eine deskriptive Statistik durchgeführt.

Durch die graphische Darstellung der Ergebnisse der Befragten sowie der Berechnung des t-Tests verschieden großer Gruppen der Teilnehmenden konnte nachgewiesen werden, dass in der Grundgesamtheit der Befragten eine Normalverteilung vorliegt und somit auch durch eine größere Anzahl an Befragten keine neuen Ergebnisse hätten gewonnen werden können..


KENNTNISSE DER BEFRAGTEN ZUM THEMA GANZTAG

Circa 70 Prozent der Befragten gab an, mit dem Thema Ganztagsbildung und -schule schon einmal in Kontakt gekommen zu sein, allerdings sagen 80 Prozent der Teilnehmenden, dass diese Thematik wenig bis gar nicht in ihrem Studium verankert ist. An jedem Studienstandort fanden zwar Inhalte zur Ganztagsschule in allgemeineren, meist einführenden Vorlesungen oder Modulen Erwähnung. Darüber hinaus bieten die Universitäten allerdings kaum Lehrangebote zur Vermittlung dieser Inhalte an. Lediglich an der Universität Leipzig besteht für die Lehramtsstudierenden die Möglichkeit, ein eigenständiges Seminar zur Ganztagsschule zu besuchen. Da dieses jedoch kein obligatorischer Studieninhalt ist, belegen nicht alle Leipziger Lehramtsstudierende dieses Seminar. Nur knapp 43 Prozent der Teilnehmenden hat bereits ein Praktikum an einer Ganztagsschule / Schule mit Ganztagsangeboten absolviert, wobei der Mehrheit dabei kein Einblick in den Ganztagsbetrieb ermöglicht wurde. Bisher ist an keiner der drei sächsischen Universitäten ein Praktikum verpflichtend, welches den Ganztagsbereich mit umfasst.

Diesen ernüchternden Ergebnissen steht die Einschätzung von etwa 88 Prozent der Befragten gegenüber, dass das Thema Ganztagsbildung in ihrem zukünftigen Berufsfeld von höchster Relevanz sein wird. Weiterhin zeigte die Online-Umfrage deutlich, dass die Studierenden an Inhalten zum Thema Ganztag sehr interessiert sind – schließlich betrifft es mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit jede angehende Lehrperson in ihrem späteren Berufsfeld. Daher benannten sie auch vielfältige Inhalte, für welche sie sich in Bezug auf das Thema Ganztag in ihrer Ausbildung interessieren. Hierzu zählen u.a. die Aufgaben und Anforderungsbereiche der Lehrkräfte, Wirkungen und Effekte der Ganztagsschule für die Lernenden, die Planung, Gestaltung und Durchführung gewinnbringender Angebote, die Rhythmisierung sowie eine erfolgreiche Kooperation sowohl mit inner- als auch außerschulischen Partner*innen.

Um die Kenntnisse der Lehramtsstudierenden zum Thema Ganztag zu ermitteln, wurden sie gebeten, unterschiedliche thematische Items auf einer Skala von 1 – kenne ich nicht bis zu 4 – kenne ich sehr gut einzuschätzen. Zur praktischen Erfassung und deutlicheren Darstellung, in welchen Bereichen die Kenntnisse der Lehramtsstudierenden am besten bzw. am schlechtesten ausgeprägt sind, werden die Kategorien kenne ich nicht und kenne ich eher nicht sowie kenne ich eher gut und kenne ich sehr gut deshalb jeweils zusammenfassend betrachtet (vgl. Tab. 1).

Tab. 1: Kenntnisse der Teilnehmer*innen zu essenziellen Bereichen des Ganztags (n=273).


Die Gesamtbilanz der Ergebnisse ist eindeutig: Sächsische Lehramtsstudierende besitzen in allen Bereichen schlecht ausgebildete Kenntnisse zum Thema Ganztag. Mit Ausnahme eines Kriteriums (Rhythmisierung von Tagesabläufen) ist bei jedem abgefragten Bereich die Gruppe derjenigen größer, die ihre Kenntnisse als weniger gut oder nicht vorhanden einschätzen als diejenigen, die sie als gut oder sehr gut einordnen würden.

Mithilfe statistischer Tests wurde weiterhin untersucht, ob Unterschiede in den Kenntnissen zwischen verschiedenen Gruppen, die nach den Antworten der Items des Fragebogens eingeteilt worden sind, existieren. Es konnte ermittelt werden, dass sowohl der Studienstandort als auch das Semester, in welches die Lehramtsstudierenden immatrikuliert sind, keinen Unterschied in den Kenntnissen der Lehramtsstudierenden mit sich bringt. Bezüglich des Aspekts der Absolvierung eines Praktikums konnte demgegenüber gezeigt werden, dass ein statistisch signifikanter Unterschied in der Grundgesamtheit der Lehramtsstudierenden existiert, die ein Praktikum an einer Ganztagsschule bzw. ein Praktikum, dass den Ganztagsbereich mit umfasst, absolviert haben und denjenigen, die keins absolviert haben. So wirkte sich ein Praktikum positiv auf die Kenntnisse in nahezu allen abgefragten Bereichen aus, insbesondere jedoch auf Wissen bezüglich der Rhythmisierung des Tagesablaufs, der Kooperation mit außerschulischen Partner*innen, des Unterrichts und der Lernkultur an Ganztagsschulen / Schulen mit Ganztagsangeboten sowie den Anforderungen an den Lehrer*innenberuf und die Lehrer*innenrolle.


EMPFEHLUNGEN ZUR OPTIMIERUNG DER LEHRER*INNENAUSBILDUNG IN SACHSEN

Aus den Ergebnissen der Befragung wurde deutlich, dass die Kenntnisse der Lehramtsstudierenden zum Thema Ganztag stark ausbaufähig sind. Welche Konsequenzen können daraus für die erste Phase der Lehrer*innenausbildung gezogen werden?

  1. Inhalte zur Rhythmisierung des Tagesablaufes an einer Ganztagsschule /Schule mit Ganztagsangeboten müssen in der Ausbildung der angehenden Lehrpersonen stärker berücksichtigt werden, insbesondere was die Bereiche der äußeren, inneren und individuellen Rhythmisierung angeht. Dazu zählt konkret die Auflösung des starren und klassischen 45-Minuten-Taktes hin zu längeren zeitlichen Blöcken; ein gleitendender Beginn des Schultages sowie die Schaffung eines Bewusstseins, dass Angebote nicht ausschließlich am Nachmittag stattfinden, sondern entsprechend den Gegebenheiten, Bedingungen und individuellen Bedürfnissen der Lernenden über den gesamten Schultag verteilt werden können.

  2. Ebenso ist Wissen über die gewinnbringende Ausgestaltung der Räume und einschneidender Tagesstrukturen, wie die des Mittagessens, für Lehrkräfte essenziell. Bedingt durch die sowohl für Schüler*innen als auch für Lehrpersonen längere zeitliche Anwesenheit in der Schule, sollten Lehrpersonen geschult sein, wie sie diesen Aspekten ausreichend Beachtung schenken können, denn so kann die gemeinsame Zeit in der Schule für alle Beteiligten schöner und angenehmer gestaltet werden. Deshalb sollte auch in der universitären Ausbildung auf die notwendigen Veränderungen der Raum- und Mittagessengestaltung eingegangen werden.

  3. Des Weiteren sollte die Thematik der Veränderung des Unterrichts und der Lernkultur dringend in die Ausbildungsangebote der drei Universitäten einbezogen werden. Konkret soll thematisiert werden, welche veränderten didaktischen und methodischen Anforderungen die Arbeit an einer Ganztagsschule mit sich bringt. Durch den bedeutsameren Umgang mit Vielfalt wird häufig ein flexibleres methodisches Vorgehen der Lehrkräfte notwendig. Neue Methoden, welche den immanenten Wechsel von An- und Entspannungsphasen berücksichtigen, werden benötigt und sollten daher bereits im Studium vermittelt werden. Verbunden damit ist es zudem sehr wahrscheinlich, als Lehrkraft später selbst ein Angebot anbieten und leiten zu müssen, sodass hierfür eben auch entsprechende Kenntnisse unabdingbar sind. Hierzu zählt unter anderem das Wissen darüber, wie man gute Angebote zielorientiert, evidenzbasiert und fundiert entwickelt und abschließend evaluiert, die zugleich das Interesse der Kinder und Jugendlichen wecken.

  4. Ebenfalls sollte der Aspekt der multiprofessionellen Kooperation in der erste Phase der Ausbildung von Lehrpersonen aufgegriffen werden, beginnend mit den grundlegenden Aspekten: was ist Kooperation konkret, wer kooperiert an einer Ganztagsschule miteinander und was zeichnet eine gelungene Kooperation aus? Zugleich ist das Wissen um die verschiedenen Rechte, Aufgaben und Rollen der unterschiedlichen Berufsgruppen essentiell. Hier könnten gemeinsame Ausbildungsabschnitte der unterschiedlichen Professionen ein wichtiger Baustein sein.

  5. Individuelle Förderung kommt in Ganztagsschulen / Schulen mit Ganztagsangeboten noch einmal stärker zum Tragen, da sich diese nicht ausschließlich auf den Unterricht bezieht, sondern gleichzeitig auf die Angebote ausgeweitet wird. Deshalb müssen Lehrpersonen geschult sein, ihren Schüler*innen etwaige Empfehlungen aussprechen zu können, in welchen Bereichen sie entweder gezielte Übung und Förderung benötigen oder besonders talentiert sind. Aufgrund dessen bedarf es zahlreicher diagnostischer Kompetenzen, welche es im Rahmen des Hochschulstudiums zu erlernen gilt. Zudem kommt hier erneut dem Wissen um eine qualitätsgeleitete Konzeption von Ganztagsangeboten eine wichtige Bedeutung zu.

  6. Ebenso verhält es sich mit den Möglichkeiten der Partizipation von Schüler*innen und Eltern. Partizipation ist ein demokratisches Grundrecht und sollte daher bereits in der Schule gefördert und gelebt werden. Konkret reicht diese Partizipation von Institutionen und Gremien wie dem Schülerrat, über die Schülerzeitung bis hin zur gemeinsamen Planung von Schulfesten und -veranstaltungen. Lehrpersonen müssen daher, neben einer allgemeinen Bereitschaft, diese einzelnen Bereiche zu fördern, auch die notwendigen Planungs- und Organisationskompetenzen erwerben.

  7. Darüber hinaus sollten in der Ausbildung angehender Lehrpersonen die Unterschiede zwischen dem klassischen Beruf der Halbtagsschullehrkraft mit dem einer Ganztagsschule / Schule mit Ganztagsangeboten verglichen, mögliche Hürden aufgezeigt und dabei zugleich erklärt werden, wie man diese effektiv bewältigt, ohne in eine ausufernde Mehrbelastung zu geraten. Denn nur indem den Studierenden vermittelt wird, dass der Beruf der Ganztagsschullehrkraft durch eine gute Struktur und Gegebenheiten keine Mehrbelastung darstellt, kann eine positive Grundeinstellung etabliert werden, welche sie dann auch in ihre zukünftige Tätigkeit tragen.

  8. Neben diesen zahlreichen Bereichen, welche es im Rahmen der Ganztagsbildung zu thematisieren gilt, sollten Lehramtsstudierende die Effekte und Auswirkungen ganztägiger Bildung kennenlernen, um sie von deren Wirksamkeit zu überzeugen. In diesem Zusammenhang gilt es unbedingt auf die zahlreichen Befunde der StEG-Studien einzugehen.

Die effizienteste Lösung zur Vermittlung all dieser Inhalte an Lehramtsstudierende würde wohl die Durchführung eines eigenständigen Moduls, zumindest jedoch eines Seminars, darstellen, welches sowohl fachliche wie auch überfachliche Kompetenzen vermittelt. Des Weiteren kann es als empfehlenswert betrachtet werden, wenn im Rahmen dieses potenziellen Moduls auch ein Praktikum der Studierenden an einer Ganztagsschule / Schule mit Ganztagsangeboten obligatorisch wird. Als Vorbild für eine derartige Implementierung in die Lehrer*innenausbildung kann das Seminar zur Ganztagsschule an der Universität Leipzig erachtet werden. Gleichzeitig hat das Leipziger Vorreitermodell ebenfalls Optimierungsbedarf: Eine verpflichtende Teilnahme aller Lehramtsstudierenden ist derzeit nicht der Fall.



LITERATURVERZEICHNIS

Appel, St./Rutz, G. (2009): Handbuch Ganztagsschule. Praxis, Konzepte, Handreichungen. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag.


Berger, A. (2012): Lehramtsstudierende auf die Gestaltung von Ganztagsschule vorbereiten. Das Karlsruher „Zertifikat GTS“, Lehren & Lernen 6. S. 25-28.


Coelen, T./Stecher, L. (Hrsg.) (2014): Die Ganztagsschule. Eine Einführung. Weinheim: Beltz.


Dizinger, V./Fussangel, K./Böhm-Kasper, O. (2011): Lehrer/in sein an der Ganztagsschule: Neue Kooperationsanforderungen – neue Belastungen? In: Stecher, L./Krüger, H.-H./Rauschenbach, T. (Hrsg.): Ganztagsschule – Neue Schule? Eine Forschungsbilanz. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 43-61.


Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (2020): INSM – Bildungsmonitor 2020. Sachsen behauptet knapp den ersten Platz. URL: https://www.insm-bildungsmonitor.de/pdf/bildungsmonitor-20-sachsen.pdf (Zugriff: 13.12.2020).


Kielblock, S./Gaiser, J. (2016): Mitarbeit von Lehrerinnen und Lehrern im Ganztagsbetrieb und ihre subjektiven Theorien zum pädagogischen Potenzial ihres „Mehr an Zeit“. In: Fischer, N./; Kuhn, H. P./Tillack, C. (Hrsg.): Was sind gute Schulen? Teil 4: Theorie, Forschung und Praxis zur Qualität von Ganztagsschulen. Immhausen bei Kassel: Prolog Verlag, S. 122-137.


Kultusministerkonferenz (2000): Gemeinsame Erklärung des Präsidenten der Kultusministerkonferenz und der Vorsitzenden der Bildungs- und Lehrergewerkschaften sowie ihrer Spitzenorganisationen Deutscher Gewerkschaftsbund DGB und DBB - Beamtenbund und Tarifunion. Aufgaben von Lehrerinnen und Lehrern heute - Fachleute für das Lernen. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 5.10.2000 URL: https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2000/2000_10_05-Aufgaben-Lehrer.pdf (Zugriff: 22.10.2020).


Kultusministerkonferenz (2015): Ganztagsschulen in Deutschland. Bericht der Kultusministerkonferenz 03.12.2015. URL: https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2015/2015-12-03-Ganztagsschulbericht.pdf (Zugriff: 21.10.2020).


Lehmann, B. (2014): Das Berufsfeld Ganztagsschule – Eine vergessene Aufgabe in der Lehrerbildung, Lehren & Lernen 6. S. 26-29.


Monitor-Lehrerbildung (2017): Neue Aufgaben, neue Rollen?!-Lehrerbildung für den Ganztag. Eine Sonderpublikation aus dem Projekt „Monitor Lehrerbildung“. URL: https://www.monitor-lehrerbildung.de/export/sites/default/.content/Downloads/Monitor-Lehrerbildung_Broschuere_Ganztag_Druck.pdf (Zugriff: 22.10.2020).


Oelkers, J. (2011): „Ganztagsschule“ in der Ausbildung der Professionen. Expertise im Auftrag der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung. URL: https://www.ganztaegig-lernen.de/media/web/download/Expertise_Oelkers.pdf (Zugriff: 25.11.2020).


Popp, U. (2011): Wie sich Lehrkräfte an ganztägigen Schulen wahrnehmen und was sich Schüler(innen) von ihnen wünschen. In: Appel, S./Rother, U. (Hrsg.): Jahrbuch Ganztagsschule 2011. Mehr Schule oder doch: Mehr als Schule?. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag, S. 34-47.


Rollett, W. (2013): Anforderungen an Lehrer/innen der Ganztagsschule. In: Erdsieck – Rave, U./John-Ohnesorg, M. (Hrsg.): Gute Ganztagsschulen. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung, S. 73-78.


Speck, K. (2012): Lehrerprofessionalität, Lehrerbildung und Ganztagsschule. In: Appel, S./Rother, U. (Hrsg.): Jahrbuch Ganztagsschule 2012. Schulatmosphäre – Lernlandschaft – Lebenswelt. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag, S. 56-66.


Steiner, W. (2010): Kerngeschäft der Schule ist das Lernen. Sechs Fragen an Peter Fauser, In: Pädagogik 4/2010. S. 32-33.


Terhart, E. (2007): Lehrer. In: Tenorth, H.-E./Tippelt, R. (Hrsg.): Beltz Lexikon Pädagogik. Weinheim: Beltz, S. 458-461.


Tillmann, K./Rollett, W. (2011): Multiprofessionelle Kooperation und Partizipation an Ganztagsschulen – Welche Auswirkung hat die strukturelle Einbindung des weiteren pädagogischen Personals auf die berufsgruppenübergreifende Zusammenarbeit? In: Speck, K./Olk, T./ Böhm-Kasper, O./Stolz, H.-J./Wiezorek, C. (Hrsg.): Ganztagsschulische Kooperation und Professionsentwicklung. Studien zu multiprofessionellen Teams und sozialräumlicher Vernetzung. Weinheim: Juventa, S. 29-47.


Uhl, S. (2017): Die Ganztagsschule und ihre Auswirkungen auf die Lehrerbildung. Pädagogische Rundschau 71. Jahrgang. S. 155-170.


Wichmann, M. (2014): Ganztagsschule und Lehrerbildung. In: Seminar - Lehrerbildung und Schule, Jg. 20, H. 1, S. 103-106.


Wunder, D. (2008): Ein neuer Beruf? Lehrerinnen und Lehrer an Ganztagsschulen. Schwalbach: Wochenschau Verlag.


ZITATIONSVORSCHLAG

Lehmann, Laura (2021): Kenntnisse von sächsischen Lehramtsstudierenden zum Thema Ganztag. In: Ganztag entwickeln. Verfügbar unter: http://ganztag-entwickeln.de


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