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Der Übergang von der traditionellen Ganztagsschule zur modernen Halbtagsschule in Sachsen

Aktualisiert: 9. Jan. 2023

Von Guido Eggebert-Seelmann


Wer weiß heute noch, dass die Ganztagsschule über viele Jahrhunderte die normale Schulorganisation in Deutschland und auch in Sachsen war? Die Durchsetzung der Halbtagsschule vor ca. 100–120 Jahren in Sachsen begann in Preußen, um den Schüler*innen an Gymnasien den zweimaligen Schulweg zu ersparen und auch den Lehrkräften den Nachmittag frei zu halten. War das eine Fehlentwicklung in der deutschen Bildungsgeschichte?


GANZTAGSSCHULE ALS REGELFALL

Wie überall im deutschen Sprachraum, aber auch weitgehend in Europa, war Schule auch in Sachsen grundsätzlich ganztägig angedacht. Dies galt vor allem an Lateinschulen, die sich im 13. und 14. Jahrhundert in den Städten auch in Sachsen herausbildeten. Sie übernahmen die Tradition der Klosterschulen, in denen das Lernen auf den gesamten Tag verteilt war. Nur an Elementarschulen wird der ganztägige Ansatz in den Winterschulen praktiziert, da in den Sommermonaten die Kinder dringend in der Landwirtschaft gebraucht wurden.


STUNDENPLÄNE

Aus den Originalstundenplänen aus vielen Archiven Sachsens wird der Ablauf des Unterrichts in einer Schulwoche deutlich. An Hand der Stundenpläne lässt sich der Unterrichtsbeginn, die Länge einer Unterrichtsstunde, die Mittagspause sowie die Verteilung des Unterrichts auf Vor- und Nachmittag deutlich ablesen. Originalstundenpläne sind deshalb ein wichtiger Baustein zur Beschreibung und Nachverfolgung des ganztägigen Unterrichts in früheren Zeiten.

Abb. 1: Stundenplan der Fürsten- und Landesschule zu St. Afra in Meissen von 1875 (in: Jahresbericht der Fürsten- und Landesschule St. Afra in Meissen von 1785, Bd. 1875, S. 42. URL: https://digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/63770/44/1.)


Auch lässt sich mit Hilfe von Stundenplänen der schrittweise Übergang von der traditionellen Ganztagsschule hin zur modernen Halbtagsschule verfolgen. Neben Originalstundenplänen bieten Verordnungen und Gesetze den Rahmen zur Umsetzung von Modellen von Ganztagsschulen und im 20. Jahrhundert die Voraussetzungen zur Etablierung von Halbtagsschulen zuerst an höheren Schulen und dann auch an Volksschulen. Die seit dem frühen Mittelalter zuerst an Lateinschulen selbstverständliche Form des ganztägigen Unterrichts hielt sich in Sachsen bis Ende des 19. und bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts an Gymnasien. Der Übergang zur Halbtagsschule wurde begleitet von Forderungen nach deren Umsetzung aber auch heftiger Kritik an dieser Entwicklung.


ELEMENTARSCHULEN / VOLKSSCHULEN

Auch an Volksschulen wurde Unterricht am Nachmittag gehalten, oftmals am Vor- oder Nachmittag, wie das folgende Beispiel zeigt.

Abb. 2: Stundenplan der einfachen Volksschule/Elementarschule und Fortbildungsschule zu Birkwitz von 1914 (AV Pirna, STAP Pirna, B VIII-XV Gemeinde Birkwitz-Pratzschwitz, Nr. 3, Bl. 54.)


Der Sonderfall ›Halbtagsschule‹ in Europa setzte sich aber nicht zuletzt durch Kaiser Wilhelm II. und der Not nach dem verlorenen 1. Weltkrieg durch.


DIE HALBTAGSSCHULE ALS FEHLENTWICKLUNG

Da die Halbtagsschule ihre Entstehung dieser Notsituation verdankt, nämlich weite Schulwege für manche Gymnasiasten, die vor allem am Anfang der Entwicklung wegen kriegsbedingt fehlender Transportmittel zweimal zu Fuß zurückgelegt werden mussten, stellt sich die Frage, wieso angesichts der heutigen, deutlich besseren Bedingungen weiterhin vielfach noch an der Halbtagsschule festgehalten wird, obwohl sie zumindest mitverantwortlich für die schlechten PISA-Ergebnisse ist. Sachsen hat in dieser Vergleichsstudie zumindest wegen eines konsequenten Hortmodells zwar besser als alle übrigen Bundesländer abgeschnitten, zeigt aber im internationalen Vergleich allenfalls nur Mittelmaß.

Der Autor des neu erschienen Bands "Halbtagsschule oder Ganztagsschule" versucht", diese Entwicklung sowohl an höheren Schulen als auch an Volksschulen darzustellen, da Volksschulen in den Städten Sachsens fast zur gleichen Zeit zur Halbtagsschule übergingen, auf dem Land aber noch lange weiterhin in der Tradition der Ganztagsschule verblieben.

Neuere oder weitere Forschungsergebnisse zu Sachsen sind zu diesem Übergang von der Ganztagsschule zur Halbtagsschule nicht vorhanden. Der Autor schließt mit seiner wissenschaftlichen Untersuchung diese Lücke. Insofern handelt es sich beim vorliegenden Buch um bildungsgeschichtliches Neuland. Die Halbtagsschule war eine Notlösung für verschiedene Probleme, aber auch eine pädagogische, sozialpolitische und bildungspolitische Fehlentwicklung. Mit seinen bisherigen Publikationen will Eggebert-Seelmann deutlich machen, dass es keine Rechtfertigung mehr für die Beibehaltung eines überholten Schulmodells, nämlich die Halbtagsschule, mehr gibt. Er stellt somit heraus, dass Betreuungsmodelle am Nachmittag zwar einen Beitrag für die Vereinbarkeit von Schule und Beruf leisten, aber nur ein Zwischenschritt auf dem Weg einer Rückkehr zur modernen rhythmisierten Ganztagsschule in gebundener Konzeption sein können.


BEZUG

Die neue Publikation von Dr. Guido Seelmann-Eggebert: Ganztagsschule oder Halbtagsschule? Zeitkonzepte in Sachsen vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert ist jetzt erschienen. Anhand von zahlreichen Beispielen und Originalstundenplänen verfolgt der reich illustrierte Band die wechselvolle Geschichte unterschiedlicher schulischer Zeitkonzepte in Sachsen.

Der vorliegende Band zu Sachsen ist der 3. Band in der Reihe Studien zur Schulgeschichte und kann direkt beim Verlag AfG media bezogen werden. Weitere Informationen unter https://afg-im-netz.de/publikationen/schulgeschichte_reihe/


DER AUTOR

Dr. Guido Seelmann-Eggebert war Rektor an einer Integrierten Gesamtschule und Ganztagsschule in Wiesbaden und Vorsitzender des Landesverbandes Hessen im Ganztagsschulverband e.V. Er promovierte 2021 zur Entstehung der Halbtagsschule in Deutschland. 2021 wurde er mit dem Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland für sein soziales und politisches Engagement geehrt.


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