top of page

Weiterentwicklung von Schlüsselkompetenzen durch Ganztagsangebote


Arbeitsgemeinschaft „Retten und Snacken“ an der Sekundarschule „Prof. Otto Schmeil“ in Kabelsketal OT Gröbers (Sachsen-Anhalt)

Von Hermann Wollenbecker


NICHT FÜR DIE SCHULE, SONDERN FÜR DAS LEBEN LERNEN WIR

Ein Zitat, eine Lebensweisheit – wohlmeinende Worte, die Schüler*innen von Erwachsenen immer wieder hören. Sie sollen motivieren, sollen anregen, sich in der Schule anzustrengen. Lernen für das Leben? Kann Schule das aktuell leisten?

Die Strukturen unserer Welt haben sich im 21. Jahrhundert rasant verändert. Durch das Internet ist Wissen mit wenigen Mausklicks direkt erreichbar und wir sind mit der ganzen Welt verknüpft. Die Schule als primäre Bildungsstätte, steht in der Verantwortung, Schlüsselkompetenzen an die Heranwachsenden zu vermitteln, die dem schnellen Wandel unserer Welt gerecht werden. (vgl. Europäische Kommission, 2006, S. 3)

Wie kann das gelingen? Müssen wir Schule ganz neu denken? Welche Vorteile bieten weiterentwickelte Schulformen wie die Ganztagsschule?


KOMPETENZEN – DER SCHLÜSSEL ZUM ERFOLGREICHEN LEBEN?

Im Jahr 2006 wurde von der Europäischen Union ein Rahmen für Schlüsselkompetenzen erarbeitet, über die jede Person verfügen sollte, „um den derzeitigen Lebensstandard [zu] wahren, hohe Beschäftigungsraten sicher[zu]stellen und den sozialen Zusammenhalt [zu] fördern.“ (Rat der Europäischen Union, 2018, S. 1)

Kompetenzen werden in diesem Zusammenhang „als eine Kombination aus Wissen, Fähigkeiten und Einstellungen, die an den jeweiligen Kontext angepasst sind “ (Europäische Kommission, 2006, S. 3) verstanden. Übertragen auf den Begriff der Schlüsselkompetenzen bedeutet dies, dass Schüler*innen durch das Erlernen von acht definierten Schlüsselkompetenzen in der Lage sein sollten, sich persönlich zu entfalten, am sozialen Alltag teilzunehmen und erfolgreich ihren zukünftigen Berufsalltag zu bestreiten. All diese Kompetenzen greifen dabei ineinander und sind im Europäischen Referenzrahmen ‚Schlüsselkompetenzen für ein lebenslanges Lernen‘ formuliert (vgl. ebd.).


Der folgende Infokasten zählt die acht Schlüsselkompetenzen auf:

Abb. 1: Acht Schlüsselkompetenzen für lebenslanges Lernen, eigene Darstellung nach dem Europäischen Referenzrahmen, Europäische Kommission, 2006, S. 3.


SCHLÜSSELKOMPETENZEN UND SCHULE – DIE GROSSE HERAUSFORDERUNG

Im Referenzrahmen der Europäischen Union werden die Kompetenzen sehr abstrakt dargestellt, sodass Lehrkräfte vor eine besondere Herausforderung gestellt werden. Welche Schwerpunkte sollten sie besonders bei der Kompetenzentwicklung in der Arbeit mit den Heranwachsenden im Blick haben?

In Bezug auf die Sprachkompetenz geht es darum, Schüler*innen sowohl in der Muttersprache, als auch in den Fremdsprachen, Fähigkeiten zu vermitteln, die es ihnen ermöglichen, auf vielfältige Weise und flexibel mit anderen zu kommunizieren.

Mit Blick auf unternehmerische Kompetenzen sollte Schule Möglichkeiten eröffnen, die es den Schüler*innen erlaubt, praktische unternehmerische Erfahrungen zu machen (vgl. Rat der Europäischen Union, 2018, S. 4). Dabei können persönliche Fähigkeiten und Stärken wie Toleranz, Selbständigkeit, Verantwortungsbewusstsein, Kreativität und Innovation entwickelt werden (vgl. Europäische Kommission, 2006, S. 4), welche in unserer schnelllebigen und digitalisierten Gesellschaft dringend gebraucht werden. Die oben genannten Persönlichkeitseigenschaften spielen bei der Aneignung der Sozial- und Bürgerkompetenz ebenfalls eine entscheidende Rolle und sind dadurch immer stark miteinander verknüpft.

Kreativität und Innovation sind wichtige Werte, die neben der immer noch vorherrschenden reinen Wissensvermittlung in den Kompetenzbereichen der Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik (MINT) Bedeutung erlangen müssen. Durch die Verbindung der Fächer untereinander und durch die Verbindung mit dem Fach Kunst können aufregende und spannende Projekte kreiert werden, um mehr junge Menschen für die MINT-Berufe zu begeistern (vgl. Rat der Europäischen Union, 2018, S. 4).


GANZTAGSSCHULEN – DER LÖSUNGSANSATZ?

Seit ca. 20 Jahren entwickeln sich in Deutschland Ganztagsschulen. An ihnen sollen Voraussetzungen für Partizipation, Solidarität, autonome Lebensgestaltung und soziale Kompetenz geschaffen werden (vgl. Nerowski, 2015, S. 47). Besonders für leistungsschwächere Schüler*innen erhofft man sich, durch diese Schulform von der reinen Wissensvermittlung wegzukommen. Eine Wertschätzung von Schüler*innenleistungen und die Vorbereitung für die Herausforderungen unserer Zeit kann nur durch eine ständige Weiterentwicklung von Kompetenzen erreicht werden (vgl. Prüß et al., 2009, S. 16).

Wie also schafft es die Ganztagsschule, Schlüsselkompetenzen für ein lebenslanges Lernen an die Schüler*innen zu vermitteln?

Ganztagsschulen haben gegenüber Halbtagsschulen den Vorteil, dass sie an mindestens drei Tagen in der Woche ein mit dem Unterricht verknüpftes Ganztagsangebot am Nachmittag bieten. Durch die gewonnene Mehrzeit in der Schule haben Kinder und Jugendliche die Möglichkeit, vermehrt eigenen Vorlieben und Neigungen nachzugehen sowie ihre Interessen und Fähigkeiten weiterzuentwickeln (vgl. Steinhäuser, 2019, S. 114).

Abb. 2: Einige Ideen zur Umsetzung von Kompetenzentwicklung, eigene Darstellung.


Ein höherer Anteil und die deutlich verstärkte Wichtung von Projektarbeitsphasen in der Kooperation mit außerschulischen Partnern schafft in einer Ganztagsschule weitere Lernfelder. Beispielsweise können durch die Initiierung von Schülerfirmen oder durch Kooperationen mit lokal ansässigen Unternehmen außerschulische Einblicke in die Arbeitswelt gewonnen werden, welche die unternehmerischen Kompetenzen der Schüler*innen weiterentwickeln (vgl. ebd., S. 118). Zusätzlich kann mithilfe von Angeboten externer Partnern die digitale Kompetenz über den Unterricht hinaus und interessenbezogen gefördert werden. Jugendlichen, die z. B. die Entwicklung einer App oder die Produktion eines Filmes in allen wichtigen Schritten von der Idee bis zur Fertigstellung kennenlernen, verknüpfen dabei ihre Alltagswelt mit digitalen Medien und etablieren diese als Gestaltungsmittel (vgl. ebd.). Aufgabe von Schule als Organisationsinstrument ist dabei eine „vorausschauende, gründliche Planung der Projekte“ (ebd., S. 112), aber auch, die Heranwachsenden bei ihren Interessen abzuholen.

Als einer der wichtigsten Aspekte beim Konzept der Ganztagsschule stellt sich allerdings die Förderung der sozialen Kompetenz dar. Es gibt nichts Schöneres, als in Projekten oder Arbeitsgemeinschaften selbstorganisiert zu lernen, Verantwortung zu übernehmen, Schule mitzugestalten, sich vielleicht auch sozial und politisch zu engagieren.

Die große Chance und Aufgabe der Ganztagsschule ist es, sich in der Region zu engagieren, die Ressourcen dieser zu nutzen und bei der Weiterentwicklung der acht Schlüsselkompetenzen auch immer die sich verändernden Bedingungen unserer globalisierten Welt im Blick zu haben. Schüler*innen, die Umwelt- und Nachhaltigkeitsbildung beispielsweise in Arbeitsgemeinschaften gelernt und gelebt haben, entwickeln Fähigkeiten wie die verantwortungsvolle Mitgestaltung und das soziale Lernen und werden so zu eigenverantwortlich handelnden und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten (vgl. ebd.).


„RETTEN UND SNACKEN“ – EINE ARBEITSGEMEINSCHAFT MIT FOCUS AUF DIE NACHHALTIGKEITSBILDUNG

Die Arbeitsgemeinschaft (AG) „Retten und Snacken“ an der Sekundarschule „Prof. Otto Schmeil“ im Kabelsketal in Sachsen-Anhalt arbeitet mit einem denkbar einfachen Konzept. Abgelaufene Produkte aus einem nahegelegenen Supermarkt abholen („Retten“) und diese dann verwerten („Snacken“).

Zwei engagierte Lehrkräfte dieser Schule besorgen dreimal wöchentlich alle Lebensmittel mit überschrittenem Haltbarkeitsdatum aus dem örtlichen Supermarkt. In einer zweistündigen AG werden diese dann von Schüler*innen eigenständig sortiert und verwertet. Darüber hinaus kümmern sich die AG-Mitglieder*innen um eine sich auf dem Schulgelände befindende Blühwiese für Insekten und um kleinere Kräuterbeete.

Zu Beginn der wöchentlichen AG-Zeit werden abhängig von der Jahreszeit die notwendigen Arbeiten in Zusammenhang mit der Bewirtschaftung der Wiesenfläche besprochen und die Aufgaben nach Interessenlagen und Bedarf verteilt. Außerdem werden die Schüler*innen durch gezielte Anregungen in ihren Ideenfindungen zur Verarbeitung oder Haltbarmachung der geretteten Lebensmittel unterstützt.

Die Heranwachsenden lernen, sich kontinuierlich und gemeinsam um ein Projekt zu bemühen und anhand von saisonalen Witterungsverhältnissen ihre Aufgaben anzupassen. Werden die Kräuter beispielsweise nicht regelmäßig gewässert bzw. das Unkraut auf der Fläche nicht entfernt, gehen die Gewächse ein und müssen neu gepflanzt werden. Um das zu verhindern, müssen die Lernenden konstruktiv miteinander kommunizieren, sich ihrer Verpflichtungen innerhalb der AG bewusstwerden und stärken neben Selbstständigkeit und Verantwortungsbewusstsein ihre Sozialkompetenz (vgl. Europäische Kommission, 2006, S. 9).

Auch bei der Verwertung der geretteten Lebensmittel werden weitere wichtige Kompetenzbereiche angesprochen. Die Schüler*innen müssen ihre persönlichen Fähigkeiten und Stärken wie beispielsweise Kreativität und Innovation weiterentwickeln, denn nicht immer passen die vorhandenen Lebensmittel perfekt zusammen. Das schult darüber hinaus die Eigeninitiative und die unternehmerische Kompetenz der Lernenden (vgl. ebd., S. 11).

Neben diesen beiden Kompetenzbereichen fördert die AG selbstverständlich auch die Lernkompetenz. Die Schüler*innen müssen neue Kenntnisse und Fähigkeiten erschließen, verarbeiten und aufnehmen (vgl. ebd., S. 8). Innovative Rezeptideen, vertiefende Kenntnisse zu Nutzpflanzen wie Kräutern und das Wissen um notwendige Aufgaben in den verschiedenen Jahreszeiten stellen sie vor Herausforderungen, die es zu bewältigen gilt. Bei Problemen haben sie die Möglichkeit, eine Lehrperson zu Rate zu ziehen, das Internet zu befragen oder sich im Austausch mit anderen, Fähigkeiten und Kenntnisse in fächerübergreifenden Bereichen aufzubauen. (vgl. ebd.).

Die AG „Retten und Snacken“ ist durch ihre Vielschichtigkeit ein gutes Beispiel für die Weiterentwicklung von Kompetenzen durch Ganztagsangebote. Sie holt die Schüler*innen bei ihren Interessen ab und fördert Kompetenzbereiche, die aufgrund von Zeitmangel und Lehrplanverpflichtungen im Vormittagsunterricht zum Teil zu kurz kommen. Anhand von „Retten und Snacken“ ist zu erkennen, wie die Sekundarschule „Prof. Otto Schmeil“ als Ganztagschule versucht, ihrer Verantwortung – ein lebenslanges Lernen zu ermöglichen – gerecht zu werden und dabei die Ressourcen der Region, auch mit einem Blick auf Nachhaltigkeitsbildung, sinnvoll zu nutzen.


FAZIT

Die Möglichkeiten der Kompetenzentwicklung an Ganztagsschulen sind vielfältig. Entscheidend ist allerdings, dass nur durch eine hohe Qualität und eine intensive Nutzung ganztägiger Bildungsangebote das enorme Potential im Leistungs- und Persönlichkeitsbereich genutzt wird (vgl. Elting et al., 2019, S. 236f.). Schule muss es schaffen, diesen Anforderungen gerecht zu werden, um den Schüler*innen den Erwerb von Schlüsselkompetenzen und damit ein lebenslanges Lernen zu ermöglichen.


LITERATURVERZEICHNIS


Elting, C.; Kopp, B. & Haider, M. (2019): Wirkungen des Ganztags auf Leistungs- und Persönlichkeitsentwicklung der Schülerinnen und Schüler. In: Steinhäuser, H.; Zierer, K. & Zöller, A. (Hrsg.), Portfolio Ganztagsschule. Schneider Verlag Hohengehren GmbH, S. 231–239.


Europäische Kommission (2006): Schlüsselkompetenzen für lebensbegleitendes Lernen: Ein europäischer Referenzrahmen. URL: https://www.kmk-pad.org/fileadmin/Dateien/download/VERANSTALTUNGSDOKU/YouthMove2011/Referenzrahmen_Schluesselkompetenzen.pdf (Zugriff am: 04.04.2023).


Nerowski, C. (2015). Erwartungen an Ganztagsschulen. Basiswissen Ganztagsschule, S. 38–62. URL: https://fis.uni-bamberg.de/handle/uniba/44103 (Zugriff am: 04.04.2023).


Prüß, F.; Kortas, S. & Schöpa, M. (2009): Aktuelle Anforderungen an die Erziehungswissenschaft und die pädagogische Praxis. In: Prüß, F.; Kortas, S. & Schöpa, M. (Hrsg.): Studien zur ganztägigen Bildung. Die Ganztagsschule: von der Theorie zur Praxis: Anforderungen und Perspektiven für Erziehungswissenschaft und Schulentwicklung. Juventa-Verl., S. 15–32.


Rat der Europäischen Union (2018): Empfehlung des Rates vom 22. Mai 2018 zu Schlüsselkompetenzen für lebenslanges Lernen Text von Bedeutung für den EWR. URL: https://www.kmk-pad.org/fileadmin/Dateien/download/v_na/10_EU_Schluesseldokumente/Empfehlung_Schluesselkompetenzen_2018.pdf (Zugriff am: 04.04.2023).


Steinhäuser, H. (2019): Vorbereitung auf Beruf, Studium und eine aktive Lebensgestaltung. In: Steinhäuser, H.; Zierer, K. & Zöller, A. (Hrsg.), Portfolio Ganztagsschule. Schneider Verlag Hohengehren GmbH. Schneider Verlag Hohengehren GmbH, S. 111–121.

Neu im Blog:

bottom of page